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75 Jahre Zerrissenheit

75 Jahre Zerrissenheit

Israel feiert die Staatsgründung in Krisenzeiten, während die Palästinenser der Nakba gedenken.

Bei jedem Angriff müsse man „den Ort zerstören oder die Einwohner vertreiben und ihre Stelle einnehmen“, forderte David Ben-Gurion 1947. Am 14. Mai 1948, einen Tag vor dem offiziellen Abzug der britischen Mandatstruppen, rief er den Staat Israel in Tel Aviv aus. Darauf eilten die arabischen Nachbarn den palästinensischen Geschwistern zu Hilfe und griffen den neu gegründeten Staat an. Dieser, mit Waffen gut versorgt, schlug hart zurück.

Mit Kriegsbeginn betrachtete Israels Führung die im UNO-Teilungsplan vorgesehenen Grenzen als hinfällig und eroberte in Galiläa, um Be’er Sheva sowie entlang der ägyptischen Grenze, beträchtliche Gebiete. Doch belegen Forschungen des israelisch-jüdischen Historikers Ilan Pappe, dass schon ab Dezember 1947 jüdische Untergrundmilizen wie Hagana, die Irgun- und Stern-Gruppe begannen, arabische Orte zu „säubern”.

Als 1949 ein Waffenstillstand vereinbart wurde, hatte der jüdische Staat sein Gebiet auf 78 Prozent des historischen Palästina vergrößert. Zwischen 700.000 und 800.000 palästinensische Araber waren heimatvertrieben, mindestens 531 Dörfer und 11 Stadtteile waren entvölkert, teils geplündert, oft plattgewalzt, Frauen vergewaltigt. Haus und Hof gingen verloren, ebenso Fabriken, Plantagen und Geld auf Bankkonten. Israel konfiszierte auch kirchlichen Besitz oder riss Kirchen ab wie die von Birwa, die unter den Feldern des jüdischen Ortes Ahihud begraben liegt.

Die Nakba hat die palästinensisch-christliche Gemeinde in vier Städten komplett ausgelöscht: in Safad (hebräisch Zefat), Bir Sab’a (Be’er Sheva), Beisan (Bet Shean) und Tabbarya (Tiberias) sowie die West-Jerusalems. Nakba nennen die Palästinenser das Schicksalsjahr 1948, ein arabisches Kunstwort für Katastrophe. Der Gesamtverlust des zerstörten oder beschlagnahmten palästinensischen Eigentums — darunter 70.000 konfiszierte Bücher — wird mit mehr als 200 Milliarden US-Dollar beziffert.

Auch 75 Jahre später will das offizielle Israel sich nicht jener Zeit stellen. Der israelische UNO-Botschafter Gilad Erdan stürmte kürzlich aus dem UNO-Sicherheitsrat. Sein Bemühen, das Treffen zur „Situation im Nahen Osten, einschließlich der Palästinafrage“ zu verlegen, war erfolglos, so fand es am israelischen Yom HaZikaron, dem Gedenktag für Gefallene statt. Der Likud-Politiker weigerte sich, „mir an diesem heiligen Tag Lügen und Verurteilungen anzuhören“. Denn der Rat werde „wie üblich mehr horrende Lügen hören, die den Staat Israel verurteilen und ein falsches Bild zeichnen, wonach Israel die Wurzel aller Probleme der Region sei“.

Bereits 2011 hatte die Knesset das Nakba-Gesetz verabschiedet, das offizielle Zeremonien zum Gedenken der Nakba verbietet. Wer trotzdem den Tag begeht, riskiert die Streichung von staatlichen Fördergeldern.

Während Israel von der palästinensischen Führung immer wieder die Bejahung des Existenzrechts anmahnt, hat für die Palästinenser die Nakba nie aufgehört. Tagtäglich erleben sie, wie Existenzen zerstört werden: 952 palästinensische Strukturen, nach israelischer Lesart illegal, wurden laut UNO-Agentur OCHA (Office fort he Coordination of Humanitarian Affairs) im vergangenen Jahr im West-Jordanland und in Ost-Jerusalem abgerissen, 406 sind es bereits 2023; Israel verweigert beständig Baugenehmigungen. Sogar Schulen wurden schon abgerissen: die gerade fertiggestellte und von der EU finanzierte Schule in Khirbet a-Safai im Bezirk Hebron sowie kürzlich eine beim Herodion, unweit Bethlehems. „Das ist beschämend und schändlich“, meint die israelische Shalom achshav (Frieden Jetzt)-Organisation. Nie habe sich die Regierung darum gekümmert, „ihrer moralischen und juristischen Verpflichtung nachzukommen, die Grundbedürfnisse der palästinensischen Einwohner in den besetzten Gebieten sicherzustellen“. Doch nun komme sie „Siedlerforderungen nach, selbst grundlegende Einrichtungen wie die für Bildung zu zerstören“. Auch das Beduinendorf Khan al-Ahmar zwischen Jerusalem und Jericho soll nun geräumt werden.

75 Jahre nach der Staatsgründung lesen sich manche Zahlen rosig-positiv. Die Bevölkerung hat sich seit 1948 verzwölffacht und beträgt nun 9,7 Millionen Einwohner. Jahr für Jahr wandern Zehntausende von Juden ein. Die Mehrheit der Bevölkerung genießt westlichen Standard. Beim Pro-Kopf-Brutto-Inlandsprodukt rangiert das Land in den TOP 25, mit einem zehnmal höheren Wert als Palästina, das es nicht einmal unter die TOP 100 schafft. Und in der World Happiness-Tabelle ist Israel aktuell das viertglücklichste Land.

Doch gleichzeitig zeigen sich überall Risse, in der Knesset oder der Gesellschaft. Seit 17 Wochen ziehen Samstag für Samstag Hunderttausende durch die Straßen Tel Avivs, Haifas und anderer Städte – gegen die geplante Justizreform und die Beschneidung der Demokratie. Auf ihren Bannern steht „Verbrechensminister“, „Hüter der Demokratie“ oder „Wir haben zur Besatzung geschwiegen und eine Diktatur bekommen“. Zusätzlich kriselt es gewaltig zwischen Israel und den USA. Die israelische Militärbesatzung seit 1967, die mittlerweile über fünf Millionen Palästinenser „in Schach hält“, ist fester zementiert denn je – ein Ende marsweit entfernt.

Und ist Israel — wie erhofft — zum sicheren Hafen für Juden geworden? Ist es „gelobtes Land“?, wie eine aktuelle ZDF-Sendung fragt. Mitnichten.

Seit 1860, dem Jahr, „in dem die ersten jüdischen Siedler die sicheren Mauern Jerusalems verließen, um neue jüdische Viertel zu errichten, wurden insgesamt 24.213 Männer, Frauen und Kinder bei Terroranschlägen und bei der Verteidigung des Landes Israel getötet“, verlautbarte die israelische Botschaft in Berlin. Seit dem Gedenktag 2022 bis zum jüngsten vor wenigen Wochen sind „59 neue Namen“ dazugekommen. Die Palästinenser ihrerseits betrauern im Jahr 2022 „224 Märtyrer“, wie das Statistikamt PCBS (palästinensisches Zentralstatistikamt) mitteilt; die Gesamtzahl seit der „Nakba 1948“ wird mit „über 100.000 Märtyrer“ angegeben.

Die Nakba — dieser Urwunde wird Israel sich stellen müssen, will es, nach den Abraham-Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Bahrein, mit Marokko und dem Sudan endlich auch mit dem unmittelbaren Nachbarn Palästina Frieden schließen. Pfarrer Naim Ateek, Gründer des palästinensischen Zentrums Sabeel für Befreiungstheologie und dessen langjähriger Direktor, sagte in seiner diesjährigen Osterpredigt:

„Gottes Liebe und Gerechtigkeit haben das letzte Wort und es ist ein Wort des Lebens und der Befreiung. Der Tag wird kommen und wir beten, dass es bald sein möge, an dem die Dunkelheit der Besatzung schwindet und die Morgenröte der Auferstehung hell scheint. Dann wird Gott gepriesen und angebetet werden, weil wir Gerechtigkeit und Frieden erreicht haben werden.“


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